Dolores und ich

Leo und ich waren eigentlich ganz guter Dinge und glücklich miteinander, als Dolores Umbridge zum ersten Mal auftauchte. Sie stellte sich uns beim Spaziergang in den Weg und verhinderte jedes Weitergehen. Tat ich einen Schritt nach links, war sie da, tat ich einen Schritt nach rechts, ebenso.

Hochmütig blickte sie mich an, lächelte freudlos und sagte mit näselnder Stimme: “Liebes, dein Buch wird sowieso niemand lesen. Es gibt Tausende von Autoren, Hunderttausende, und sie ALLE sind besser als du.”
Der Hund kläffte empört, aber ich stand der Hexe bebend gegenüber und fühlte mich ganz elend. “Meinen Sie wirklich?”
“Aber sicher, Liebes. Such dir doch einfach einen Job beim Bäcker, ja?”
“Nein.” Ich schüttelte den Kopf. “Nein.”
Der Hund bellte immer noch tapfer, doch ich rannte los, rannte, bis mir das Herz in der Brust hämmerte, Leo an meiner Seite. Hinter mir hörte ich Umbridge perlend lachen.

Zitternd kam ich ins Büro und blieb in der Tür zur Teeküche stehen. Alles war friedlich hier und wie immer. Daniela saß am Küchentisch und wetzte Messer, Kira kochte Tee, und Franzi schnitt Marmorkuchen auf. Immer noch ganz aufgelöst, wimmerte ich: “Mein Buch ist das Schlechteste der Welt. ICH bin die schlechteste der Welt. Ich bin nutzlos. ALLE sind besser als ich.” Der Hund winselte leise.

Franzi reichte mir ein Stück Kuchen. “Umbrige, was? Auf welcher Seite bist du?”
“Hundertsechs”, muffelte ich mit Marmorkuchen im Mund. Er war angenehm tröstlich.
“Ist normal!”, rief Jenny aus dem Nebenzimmer. “Das geht wieder weg.”
Ich streckte die Hand nach mehr Kuchen aus. “Wann?”

So ging das los mit Umbridge und mir. Es ist nicht so, dass ich den inneren Zensor vorher nie getroffen hätte. Aber da war er nie so fies, so hartnäckig. So ROSA.
Was beim Marathon der Hammermann bei Kilometer 35 ist (habe ich mir sagen lassen), ist beim Roman Seite 100. Auf Seite 100 sind selbst die Besten oft der Meinung, sie würden gerade das grottigste Buch verfassen, das die Welt je gesehen hat. In der Regel vergeht das wieder.

Als ich aus Angst vor Umbridge das Spazierengehen anfing zu meiden, klopfte sie an der Bürotür, und der dämliche Praktikant ließ sie rein. Ich drückte ihr ein Stück von Franzis Kuchen in die Hand und gab ihr was zu lesen, während ich mich um die Website und die Cover unserer Ink Rebels Bücher kümmerte. Ab und zu räusperte sie sich so, dass es bis zu meinem Schreibtisch zu hören war, und wenn ich dann den Fehler machte, aufzublicken, säuselte sie: “Na, Liebes, da bist du froh, dass du gerade nicht schreiben musst, nicht wahr? Wobei… die Coverfarben sind auch nicht schön. Hier und da fehlt doch ein wenig Rosa… Wir wollen doch, dass die Leser es mögen, oder?”
Ich gab ihr mehr Kuchen. Und Tee mit Zucker.

Dann kam der Tag, an dem ich weiterschreiben musste. Sie schlief gerade, und ich schrieb so schöne Szenen. SO schöne.
Die zum Beispiel, wo Leo zur Orchesterprobe geht und … Hach. Ich hab den ganzen Tag danach Sibelius gehört.
Oder die, wo Loris’ Mutter zu Besuch kommt. Saugut. Was hab ich einen Spaß beim Schreiben gehabt.

Bis … das Räuspern aus der Küche erklang. Kurz darauf hörte ich kurze harte Schritte, und dann sah Umbridge mir über die Schulter. “Ach, bitte, Liebes. Du sollst doch nicht so tun, als könntest du das. Schau mal, allein dieser Ausdruck hier …”
Ich ignorierte sie.
“Liebes, so geht das nicht. Ich dulde keine Nichtbeachtung. Es ist ja nicht nur der eine Ausdruck. Die ganze Szene wird dir niemand abnehmen. Lächerlich geradezu. Du bist ohnehin die schlechteste…”
“HAUEN SIE AB!”, brüllte ich. “Gehen Sie dahin, wo Sie hergekommen sind.”
Sie wackelte tadelnd mit dem Kopf und lächelte weiter dieses unheimliche Lächeln.

Ich holte tief Luft. “Okay. Wir machen einen Deal. Sie dürfen in der Besenkammer bleiben, dort alles rosa einrichten und es sich richtig gemütlich machen. Und wenn das Buch fertig ist, sage ich Ihnen Bescheid, und Sie dürfen jeden einzelnen Absatz kritisieren. Hört sich das fair an?”
Wieder lächelte sie. Mir wurde kalt. “Glaub nicht, dass du mich übers Ohr hauen kannst, Liebes.”
Ich schluckte. “Nein. Würde ich nicht mal versuchen.”

So leben wir seit 40 Seiten in relativ spannungsarmer Ko-Existenz, Umbridge und ich. Ab und zu bitte ich den Praktikanten, ein paar Bonbons in die Besenkammer zu bringen. Er sagt, der Raum wäre jetzt beinahe hübsch, mit allerlei Häkeldeckchen und Dekokatzen.
Gut, sie ist beschäftigt. Noch.

Ich kümmere mich derweil mal um diese richtig, richtig coole Szene, wo Leo am Haus hochklettert. Und vielleicht recherchiere ich nochmal schnell Schlafmittel für Hexen.

5 thoughts on “Dolores und ich”

  1. Ich habe den Praktikanten mit dem dezenten Hinweis bei ihr eingesperrt, dass er Danielas Rechercheanweisungen für Selbstverstümmelung noch immer nicht ausführlich ausprobiert hat. Jetzt dürfte sie für eine Weile stark abgelenkt sein.

  2. Dolores ist disappariert, sie steht jetzt hinter mir und sieht äußerst missbilligend auf meinen Bildschirm…
    Eine tolle Idee, Julia, den inneren Zensur als Dolores zu bezeichnen! Wenn demnächst wieder die Zweifel kommen, denke ich an “deine” Dolores.
    Gruß von Liz

    1. Ach, ist sie nicht mehr im Besenschrank? Da muss ich gleich mal gucken gehen.
      Du darfst sie sonst ruhig eine Weile bei dir behalten.

  3. 🙂
    Ich muss gerade sehr lachen, liebe Anke.
    Ich denke, der Dachboden ist gut geeignet, sie hält Kälte gut aus. Unkraut vergeht bekanntlich nicht. 😉

    Sieh nur zu, dass die Bodenluke sicher schließt.
    Lieben Gruß!
    Julia

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