Kill your darlings

Heute ist der Tag, an dem ich meinen Lieblingen den Garaus mache, einem nach dem anderen.
“Kill your darlings” lautet eine wichtige Journalistenregel. Je mehr du an einer Satzkonstruktion hängst, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie raus muss.
Bei Charakteren und Szenen ist das nicht so viel anders.

Möge das Gemetzel beginnen.

Schauplatz 1: Martina muss weg

Leos erste 50 Seiten sind geschrieben – Zeit, qualifiziertes Feedback einzuholen, damit ich mich nicht irgendwo festfahre, wo es vermeidbar gewesen wäre. Es geht nichts über erfahrene Kollegen.

Also steckte ich neulich den Kopf durch die Küchentür meines virtuellen Schreibbüros und fragte in die Runde: “Hat jemand von euch Lust, sich Leos Anfang mal anzugucken?”

Gestern Abend um viertel vor zehn wollte ich dann eigentlich ins Bett, als ich eine Nachricht bekam: “Ich bin halb durch.”
“Und?”, fragte ich und wischte mir die feuchten Hände an der Schlafanzughose ab.
“Hol dir was zu trinken.”
O… kay. Ich holte tief Luft. “So schlimm?”
Es war nicht schlimm, gar nicht. Es war nur ehrlich. “Ich werde immer verrückt, wenn alles für etwas total Geiles im Text steht und es fehlen nur ein paar Kleinigkeiten, die das zusammenfügen. Wenn man sich doch selbst lektorieren könnte!”
Total geil, las ich, und Kleinigkeiten. Ich ließ die Luft wieder raus.
Dann: “Diese Martina muss weg.”
“Wie jetzt? Die mag ich! Das ist doch sonst gemein für Leo, wenn die nicht mehr da ist! Und ich brauche sie auch, weil…”
Meine Kollegin lachte sich scheckig.
“Echt.” Ich stampfte beinahe mit dem Fuß auf. “Ich brauche die.”
Sie lachte noch mehr.
Und letztlich hatte sie Recht. Martina musste weg.
Und mit ihr musste ein ganzes prächtiges Haus abgerissen und durch einen schäbigen Schuppen ersetzt werden.
Und Leo musste … Das führt hier zu weit.

Jedenfalls hat die Geschichte durch unser kicherndes Gespräch gestern nochmal einen Zahn zugelegt, und ich freue mich sehr darauf, Martina zu tilgen. Und noch das eine oder andere mehr. “Lass dir mal alles durch den Kopf gehen”, meinte meine Kollegin. “Das war jetzt einmal brutal mit dem Mixer rein.”
Ich mag Mixer. Ich hab da auch kein bisschen verletzten Stolz. Leo soll die beste Geschichte werden, die ich schreiben kann.
10 Seiten weg.
So umbeirum.

Ich geh mal Messer wetzen, denn ich muss mich heute und in den nächsten Tagen nicht nur an Martina vergreifen.

Schauplatz 2: Der Flausch muss weg

Ich mag wundervolle, plüschrosa Flauschwolken.
Ich liebe plüschrosa Flauschwolken.

Für eine meiner Geschichten hatte ich zwei Enden geschrieben: ein krachendes taschentuchverlangendes Titanic-Ende und ein – hach – so schönes, gutes, liebes, buntes Ende, bei dem sich alle, die sich über 220 Seiten gehasst hatten, plötzlich vertrugen und … Gott, war das schön.
Ich mochte beide Enden. Sehr.
Es fiel mir schwer, das Titanic-Ende loszulassen.
Aber ich hatte ja noch das plüschrosa Flauschwolken-Hollywood-Ende.
Entsprechend war ich etwas bockig, als mir meine 14jährige Ex-Praktikantin-jetzt-Lieblingstestleserin mitteilte: “Du, das Ende ist ein bisschen sehr… naja…” Pffft, dachte ich. Ich mag das.
Als nächstes sagte eine testlesende Kollegin: “Du, das Ende… Das ist ein bisschen unglaubwürdig …” Ich biss die Zähne zusammen.
Dann kam das Feedback der freien Lektorin: “Super Buch. Hat mir sehr gut gefallen. Aber dieses Ende…”
OKAY, grummelte ich.
Ich habe es verstanden.
Hmpf. Wenn es ein Film wäre, würde sich kein Mensch an zu viel Plüsch stören.
Und überhaupt.

Ich schickte meiner Agentin das Buch mit dem so schönen Ende.
“Super Geschichte”, schrieb sie. “Gefällt mir sehr gut. Nur das Ende… Das ist ein bisschen zu Hollywood.”

Ich wetze also das Messer und schneide in den nächsten Tagen mit möglichst schnellen, präzisen Schnitten den Flausch weg.
20 Seiten weg, vermutlich um die 50 neu.
ich freue mich, dass ich noch ein bisschen mehr Zeit mit meinen Figuren verbringen darf, bevor sie flügge werden.

Und das entplüschte Ende, das mir gestern beim Spazierengehen einfiel, ist auch ziemlich gut – und fast nicht Hollywood. Fast.